Vom Heilen der Wälder – Ganghofer reloaded

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„Sein Bestes war seine Liebe zur Natur, und wie er sie kannte, wie er sie zu deuten wußte …“

Dieses Zitat aus „Das Schweigen im Walde“ sagt in wenigen Worten, wofür wir noch heute Ganghofer hochschätzen können. Es täte uns gut, wenn wir uns daran erinnerten, an diese Liebe zur Natur. Fast ist sie uns abhanden gekommen. Durch Ganghofers Wald zu gehen ähnelt einer Meditation, einem stillen Ritual – einer geheimen Zeremonie. Man fällt in Trance, beginnt, sich in der Tiefe zu spüren. Als wäre man wirklich in den Bergen unterwegs, ergreift einen die Stille des Walds. Plötzlich fängt man sie ein – die Ruhe in der Welt. Geht der Wald verloren, geht auch der Mensch verloren. Das war das Credo Ganghofers. Die Entfremdung des Men- schen von der Natur und die Zerstörung der Umwelt begann schon im 19. Jahrhundert. Dagegen schrieb Ganghofer mit seinen Romanen an, und er bot mit eindrucksvoll geschilderten Walderlebnissen quasi Anleitungen, wie der Mensch seine körperliche und seelische Balance finden möge. Ganghofers Abenteuer am Berg sind eine Art Lebensschule, wo durch das neu zu lernende Schauen auf die Natur Heimat und Glück erfahrbar werden. Wollen wir ihm hier auf einigen seiner Pfade folgen.

So fängt ein Roman an – im süffigsten Ganghofer-Sound

Der Tag begann.

Schon hatte der Himmel mattes Licht, in dem die erlöschenden Sterne nur noch wie Nadelspitzen sichtbar waren. In der Tiefe des langgestreckten, von Osten nach Westen ziehenden Tales lag noch die Nacht mit schwarzen Wäldern, und über den Bergen, die das Tal auf beiden Seiten geleiteten, hing noch die Dämmerung, deren Schleier alle Felsen in ein stilles Grau verschwimmen ließ. Dieses gleiche Grau lag über dem weiten Almfeld der isolierten Bergmasse, die das lange Tal gegen Osten mit steinernem Riegel schloß, von den seitlichen Bergen durch enge Waldschluchten geschieden.

Mit dunklen Wellen hob sich das hügelige Almfeld gegen die Steinwände des Berges, der als steile Pyramide aus finsteren Wäldern stieg. Dieser Berg im Dämmerdunkel des Morgens sah anders aus als die anderen Berge. Er hob sich wie ein Geheimnis in die Lüfte, tiefschwarz, mit bläulichem Schimmer in dieser Schwärze. Über den Wipfelkämmen, die an seinen Flanken hinaufkletterten, hatte der Himmel roten Schein, und flimmernde Glutlinien umzogen das dunkle Haupt des Berges. Im Gezweig einer alten Fichte, die sich schwarz inmitten des grauen Almfeldes erhob, begann eine Ringdrossel leise zu zwitschern. Das war eine schüchterne Frage: »Tag, du schöner, kommst du nun bald?« Ein Laut, als hätte eine Tür gegen hölzerne Balken geschlagen. Hochwild, das äsend über das Almfeld gezogen, wurde flüchtig. Nahe dem Waldsaum blieben die Tiere stehen und äugten gegen die Sennhütte hinunter, aus deren offener Tür ein rötlicher Feuerschein in die Dämmerung zitterte. Jetzt erlosch der Schein. Und die Hütte glich einem großen dunklen Felsblock.

Zwei Frauen waren aus der Tür getreten, im stillen Grau zwei graue Gestalten.

Aus: Ludwig Ganghofer, Der Hohe Schein

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